Als wir in Deutschland
unseren Familien und Freunden von unseren Plänen für 8 Monate nach Indien zu
gehen erzählten, stießen wir häufig auf Zweifel, Sorge, Ungläubigkeit und
Vorbehalte. Nicht selten wurden wir mit typischen Klischees und Vorurteilen
über Indien konfrontiert. Schon damals fand ich es schade, dass in den Medien
in Deutschland zumeist nur so einseitig negativ über dieses doch so vielfältige
und komplexe Land berichtet wird, was das typische Klischee-Bild über Indien
noch weiter unterstützt. Doch was ist wirklich dran an all den Vorstellungen?
Nach knapp 7 Monaten in Indien,
wollen wir hier die gängigsten Vorurteile mit denen wir konfrontiert wurden mal
etwas genauer betrachten und euch hoffentlich noch einen weiteren neuen
Blickwinkel auf Indien geben.
Natürlich hat diese
Auflistung und unsere Schilderungen keinen Absolutheitsanspruch. Hierbei
handelt es sich lediglich um eine Darstellung, wie wir die verschiedenen Themen
während der letzten Monate wahrgenommen haben. Gewiss variiert das Ganze auch
innerhalb der verschiedenen Regionen Indiens und wir können nicht alle
Entwicklungen berücksichtigen/im Blick haben. Dennoch hoffen wir euch einen
ganz guten Einblick in unsere Erfahrungen geben zu können.
1.
„Wie? Nach
Indien? Als Frau? Da bist du doch nichts wert und wirst du eh nur
vergewaltigt!“
Ja ich
schätze das war wohl der mit Abstand häufigste Satz, den ich in Deutschland vor
meiner Abreise zu hören bekommen habe… Und, wer hätte das gedacht, ich kann
euch beruhigen, ich bin in den letzten 7 Monaten NICHT vergewaltigt oder
irgendwie sexuell belästigt worden. Und auch die von vielen geäußerten
Bedenken, ich sei hier als Frau nichts wert, kann ich nicht bestätigen.
Natürlich muss man das Ganze differenziert betrachten und klar gibt es auch
Probleme, die ich keinesfalls schönreden möchte, aber man darf hier nicht
gleich auf ganz Indien schließen.
Zunächst
einmal zu der Rolle der Frau in Indien allgemein. Betrachtet man die Strukturen,
die uns hier in den uns umgebenden kleinen Dörfern, begegnen, lässt sich nicht
leugnen, dass Frauen zumeist in der traditionellen Rolle der Hausfrau leben und
auch lässt sich nicht abstreiten, dass die indische Gesellschaft eine
patriarchische ist. Es gibt durchaus Unterdrückung und gesellschaftlichen Druck
auf Frauen. So zahlt beispielsweise in vielen Fällen bei einer traditionellen
Hochzeit die Familie der Braut eine Mitgift an die Familie des Bräutigams
zahlen, auch wenn diese Praxis eigentlich gesetzlich verboten ist. Oder ein
anderes Beispiel: Stirbt der Mann einer hinduistischen Frau, darf diese nicht
erneut heiraten und wird von wichtigen Feierlichkeiten im Familien-und
Freundeskreis, wie z.B. den Namensgebungszeremonien der neugeborenen Kinder
ausgeschlossen, da durch den Tod ihres Mannes nun Unglück an der Witwe hafte.
Nicht aber so im Falle eines Witwers. Dieser genießt nach wie vor alle
gesellschaftlichen Privilegien und kann erneut heiraten. Aber auch wir selbst
durften erfahren, was es heißt nicht unbedingt dieselben Freiheiten wie in
Deutschland zu haben. Zwar wurden wir nie respektlos behandelt, aber besonders
während unseres Interproject Visits und auf unsere Reise, merkten wir, dass man
als Mann doch viel leichter einen Anschluss an die indische Gesellschaft findet
und man auch als Frau in männlicher Begleitung anders angeschaut bzw.
wahrgenommen wird. Damit meine ich nicht, die Kommentare die man ab und an auf
der Straße mal hinterhergerufen bekommt. Das habe ich in Deutschland auch schon
in weitaus stärkerem Ausmaß erlebt… Also zu dem Thema, halten wir fest: Idioten
gibt es überall. Was uns direkt zu dem nächsten Thema „Vergewaltigungen“ führt.
Es stimmt, dass Vergewaltigungen in Indien ein Problem darstellen und diese in relativ hoher Anzahl gestehen, was jedoch auch mit der großen Bevölkerungsanzahl zusammenhängt. Als meist genanntes Beispiel für Vergewaltigungen in Indien dürfte den meisten wohl die Gruppenvergewaltigung der
jungen Studentin in einem Bus in Delhi bekannt sein. Es ist richtig, dass es in
Delhi eine nochmals höhere Vergewaltigungsrate gibt. Und ich muss auch ganz ehrlich sagen,
dass ich froh war, dass wir auf unserer Reise mit den Jungs aus einem anderen
Projekt zusammen in Delhi waren. Vor allem da unser Hotel doch schon in einer
etwas dunkleren, runtergekommenen Gasse lag… Da war ich echt nicht scharf
darauf alleine lang zu laufen.
Bevor wir jetzt jedoch gleich wieder mit dem Finger auf Indien zeigen, sollten wir Bedenken, dass Vergewaltigungen auch in Deutschland ein ernstes Problem darstellen, was leider oftmals ein Tabu-Thema darstellt. Denn auch in Deutschland kommt es regelmäßig zu sexuellen Übergriffen auf Frauen und zwar nicht nur, wie oftmals suggeriert wird durch Menschen mit Migrationshindergrund, sondern auch durch "deutsche" Männer.
Es stimmt auch, dass in Indien gerade Menschen mit Konservativen Ansichten (keinesfalls alle!) versuchen den Frauen selbst die Schuld für die Übergriffe zu geben. Es ist meiner Meinung jedoch gerade zu absurd, die Schuld eines Gewaltverbrechens bei dessen Opfer zu suchen. Letzendlich ist es der Täter, der sich entscheidet dieses zu begehen. Die Schuld dann von sich abzuweisen und bei anderen zu suchen, zeugt meiner Ansicht nach nur von charakterlicher Schwäche und dem Unvermögen für deine eigenen Handlungen einzustehen. Leider hört man auch in Deutschland des Öfteren Kommentare wie „Wenn Frauen
nicht angeschaut werden wollen, dann sollen sie sich auch dementsprechend
anziehen.“ oder „Frauen provozieren es ja sexuell belästigt zu werden, wenn sie
mit kurzen Röcken oder mit tiefem Ausschnitt rumlaufen.“
Kann es denn tatsächlich sein, dass man von Frauen verlangt ihre
Freiheiten einzuschränken, damit man selbst nicht in Versuchung kommt
respektlos oder gar straftätig zu werden? Vollkommen egal, ob in Indien oder in
Deutschland... Ich denke in beiden Ländern sollte das Bewusstsein für diese Themen gestärkt werden. Auch in Deutschland. Denn während man in Deutschland regelmäßig in den Medien von Gruppenvergewaltigungen im Ausland oder sexuelle Übergriffe auf deutsche Frauen durch Ausländer berichtet wird. Wird über von deutschen Männern ausgeübte sexuelle Gewalt weitesgehend geschwiegen.
Bei all
den negativen Aspekten, denen man als Frau nicht nur in Indien gegenübersteht,
müssen aber auch unbedingt die zahlreichen selbstbewussten, eigenständigen und
emanzipierten Frauen erwähnt werden, die wir in Indien getroffen haben. Frauen,
von denen wir uns alle eine Scheibe abschneiden können. Die für sich und andere
einstehen, in verschiedenen Hilfsorganisationen arbeiten oder einfach im Alltag
ihre „Frau“ stehen. Angefangen bei einigen Mädels im Kinderheim, die voller
Ehrgeiz für ihre Ziele Polizistin oder Ingenieurin zu werden kämpfen, über
indische Freundinnen, die lieber studieren und sich ihr eigenes Leben aufbauen,
statt zu heiraten, über die Panchayat (mehrere kleine Gemeinden) -Vorsitzende,
die innerhalb eines halben Jahres dank ihrer guten Reden und ihrem ausgeprägten
zwischenmenschlichen Gespür bis an die Spitze gewählt wurde und die volle
Unterstützung von Mann und Kindern erhält, über die Nationalheldin Neerja
Bhanot, die bei der Entführung des Pan American Flugs 73. als Stewardess mit ihrem überlegten Handeln
und Mut zahlreichen Menschen das Leben rettete (Der gleichnamige Film über
dieses Ereignis ist sehr empfehlenswert!), bis zur ehemaligen Chief Ministerin
von Tamil Nadu Jayalalithaa. Starke Frauen sind an jeder Ecke Indiens zu
finden. Und auch starke Männer, die
Frauen respektvoll und auf Augenhöhe betrachten, als Freunde oder als
gleichberechtigte Partnerin. In Indien zieht sich definitiv ein Wandel durch
die Gesellschaft und dieser ist nicht nur in den großen Städten, wo es kaum
Unterschiede zu europäischen Städten gibt, spürbar, sondern auch in Teilen der
jungen Generation am Land angekommen, wenn gleich doch auch noch nicht überall.
Falls
euch das Thema Frauenrechte in Indien und weltweit interessiert, können wir
euch noch empfehlen den Blogartikel von Anna und Milena (BBP-Freiwillige bei
der Organisation NMCT) zu lesen, der unserer Meinung nach echt gut gelungen
ist. http://bbp16-coimbatore.blogspot.in/2016/12/frauen-und-ihre-rechte-in-indien-und.html
2.
„Da werden
die Frauen doch gegen ihren Willen verheiratet.“
Nein, werden
sie nicht. Es ist richtig, dass in Indien die arrangierte Ehe am weitesten
verbreitet ist, diese ist jedoch keinesfalls mit einer Zwangsheirat zu
verwechseln. Sie beruht auf einer freiwilligen Entscheidung der beiden Partner
eine Ehe einzugehen. Entgegen der uns bekannten Liebeshochzeit, die Indien
durchaus auch verbreitet ist, wird diese Entscheidung jedoch aus rationalen,
anstelle von emotionalen Gründen getroffen. Was das Thema Kinderehen angeht,
muss man leider sagen, dass es diese nach wie vor gibt. Jedoch ist das in
Indien NICHT der Regelfall. Zumeist sind Familien aus ärmsten Verhältnissen
oder den untersten Gesellschaftsschichten betroffen, welche aus finanziellen
Gründen oft keine andere Wahl haben, als ihre Töchter zu früh zu verheiraten,
um diese nicht mehr selbst versorgen zu müssen.
3.
„Lernst du
dann eigentlich auch indisch?“
Oh ja…
Wie oft wir das gefragt wurden… Und die Antwort ist ebenso simpel wie komplex: Nein.
Es gibt nämlich kein „indisch“. Und auch entgegen vieler Annahmen wird auch
Hindi nicht überall gesprochen. Und jetzt wird es etwas komplizierter…
Sprachmäßig gesehen kann man Indien eher mit Europa als mit Deutschland
vergleichen. Jeder Staat hat seine eigne Sprache. So werden in den 29 indischen
Bundesstaaten 22 verschiedene Amtssprachen verwendet. Hindi ist dabei vor allem
im Norden verbreitet und stellt die Sprache mit den meisten Muttersprachlern dar
bzw. wird auch von den meisten Indern verstanden. Somit ist Hindi in Indien
vielleicht so etwas wie Englisch für uns Europäer. Allerdings ist auch
Englisch, vor allem auch aufgrund der Kolonialzeit, weit verbreitet in Indien.
In der Schule lernen die Kinder in der Regel die jeweilige Lokalsprache, die
Nationalsprache Hindi und die internationale Sprache Englisch.
Zu der
Frage, was wir lernen... Wir lernen Kannada, die offizielle Sprache im
Bundesstaat Karnataka, in dem wir leben. Allerdings reichen unsere Kenntnisse
nur gerade so zum Einkaufen, Essen bestellen, Sich-Vorstellen etc. aus, nicht
allerdings um wirkliche Unterhaltungen in der Sprache zu führen.
Zu
unserem Glück kommen wir aber auch hier in den meisten Fällen mit Englisch
weiter, denn zumindest den ein oder anderen Brocken sprechen dann doch die
meisten noch, wenn auch nicht alle. Aber so ist das in Deutschland ja auch. Und
zur Not; mit Händen und Füßen klappt die Verständigung dann meist doch irgendwie.
4.
„Gibt es
da überhaupt eine gute Strom-, Wasser- und Internetversorgung?“
Grundsätzlich
ja. Allerdings mit einigen Ausnahmen. Stromausfälle gehören in Indien zum
Alltag. Diese halten sich in Tarikere und im Office allerdings eher in Grenzen
und liegen nur bei ein paar Minuten am Tag, also kaum nennenswert. In
Chattanahalli in dem ziemlich abgelegenen Kinderhostel sieht das Ganze dann
schon wieder etwas anders aus. Hier wird tagsüber der Strom regelmäßig
abgestellt und kommt erst abends gegen 18:00 Uhr wieder. Aber wenn man das
weiß, ist das Ganze kein Problem und man gewöhnt sich schnell dran. Und ganz
ehrlich… Tagsüber brauchen wir den Strom ohnehin nicht. Es ist hell genug, dass
man kein Licht benötigt, Handys, Laptops etc. können wir auch nachts laden und
Tee können wir auch auf dem Gasherd statt mit dem Wasserkocher machen. Also
halb so wild.
Internet?
Im Office haben wir ganz normal W-Lan, im Hostel nicht, da die nötigen
Anschlüsse fehlen. Dafür haben wir am Handy, wie auch in Deutschland üblich,
eine Interflatrate. Also haben wir durchweg Zugang zum Internet. Auch wenn der
Empfang im Hostel (wie schon erwähnt, es ist halt ziemlich außerhalb) manchmal
eher zu wünschen übriglässt, klappt es doch immer irgendwie und sobald wir in
Tarikere sind oder auch so unterwegs, haben wir super Empfang und schnelles
mobiles Internet. Also ganz genauso wie in Deutschland, da gibt es ja auch Orte
mit besserem und mit schlechterem Empfang, gerade am Land.
Was die
Wasserversorgung angeht wird es etwas komplizierter. Wir haben immer fließend
Wasser (bis auf einmal, als eine Leitung kaputt war, aber gut das kann in
Deutschland auch mal passieren) und auch mit mangelndem Trinkwasser hatten wir
noch nie selbst Probleme.
Allerdings
ist dieses Jahr während der Regenzeit in Karnataka ungewöhnlich wenig Regen
gefallen, eigentlich fast kaum. Einige Inder/-Innen, mit denen wir uns
unterhielten, sprachen sogar davon, dass im Vergleich zu sonst, die Regenzeit
ganz ausgefallen sei. Dies hat natürlich einige Folgen nach sich gezogen, neben
ausgefallenen Ernten, leeren Staudämmen und Aufstände gegen Wasserlieferungen
in den Nachbarstaat Tamil Nadu, wird jetzt, wo es immer heißer wird und auf den
Sommer zugeht, immer deutlicher was das Ausbleiben des Regens bedeutet. Auch
wenn wir selbst noch nicht direkt betroffen waren, hören wir immer wieder vom
Wassermangel.
5.
„Komm‘ ich
heut‘ nicht, komm‘ ich morgen“
Das
Klischee können wir ganz klar bestätigen. Ganz im Gegenteil zu dem, was wir aus
dem bürokratischen Deutschland kennen, wo immer alles streng geregelt und 4
Wochen im Voraus geplant ist, gehen die Menschen hier wirklich mit allem viel
gelassener um. Field Visit? „Können wir nächste Woche machen.“, „Oh jetzt passt
es morgen eigentlich doch nicht so gut… Dann halt wann anders.“, „Ach übrigens
morgen oder übermorgen ist auch ein Feiertag, da sind die Kinder den ganzen Tag
da.“, „Ihr könntet das noch machen oder das, vielleicht morgen oder ach doch
nächste Woche.“ Das ist hier wohl Standard. Einen festen Plan gibt es selten.
Eher viele verschiedene Möglichkeiten, die man sich offenhält, um dann spontan
zu entscheiden, was gerade passt. Aber wer sagt denn, dass das schlecht ist?
Klar für uns ist manchmal ein bisschen anstrengend, da wir es einfach anders
gewöhnt sind. Aber wenn man sich erstmal dran gewöhnt hat, dass hier alles etwas
länger dauert und man meist mehrmals nachfragen muss, bis etwas wirklich was
wird, ist das auch kein Problem. Im Gegenteil, wir haben mittlerweile gelernt,
die Vorzüge dieser Einstellung zu genießen. Wie z.B. die total entspannten
Bürozeiten. Die Mitarbeiter kommen meist so zwischen halb elf und elf, manchmal
auch später eingetrudelt. Aber auch im Alltag merkt man, dass alles weniger
durchgetaktet ist als in Deutschland und Menschen viel gelassener sind. Und ein
riesen Pluspunkt: Ich habe noch keinen Inder mit Burn-out getroffen! Das soll
natürlich nicht heißen, dass es das nicht gibt. Das ist lediglich, wie wir
unser Umfeld hier in dem kleinen Tarikere im Süden Indiens wahrnehmen. In den
großen Städten und den großen Konzernen gibt es sicherlich auch einen
druchgetakteteren Ablauf und auch haben wir schon gehört, dass es so toll sei,
dass in Deutschland alles so strukturiert und geplant ist. Und um das nicht
falsch zu verstehen, das heißt nicht, dass die Menschen hier nicht auch hart
arbeiten, sie gehen lediglich mit einer lockereren Einstellung an die Sache.