Dienstag, 21. Februar 2017

Was ist dran? – Die gängigsten Klischees über Indien (Teil 1)

Als wir in Deutschland unseren Familien und Freunden von unseren Plänen für 8 Monate nach Indien zu gehen erzählten, stießen wir häufig auf Zweifel, Sorge, Ungläubigkeit und Vorbehalte. Nicht selten wurden wir mit typischen Klischees und Vorurteilen über Indien konfrontiert. Schon damals fand ich es schade, dass in den Medien in Deutschland zumeist nur so einseitig negativ über dieses doch so vielfältige und komplexe Land berichtet wird, was das typische Klischee-Bild über Indien noch weiter unterstützt. Doch was ist wirklich dran an all den Vorstellungen?
Nach knapp 7 Monaten in Indien, wollen wir hier die gängigsten Vorurteile mit denen wir konfrontiert wurden mal etwas genauer betrachten und euch hoffentlich noch einen weiteren neuen Blickwinkel auf Indien geben.
Natürlich hat diese Auflistung und unsere Schilderungen keinen Absolutheitsanspruch. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Darstellung, wie wir die verschiedenen Themen während der letzten Monate wahrgenommen haben. Gewiss variiert das Ganze auch innerhalb der verschiedenen Regionen Indiens und wir können nicht alle Entwicklungen berücksichtigen/im Blick haben. Dennoch hoffen wir euch einen ganz guten Einblick in unsere Erfahrungen geben zu können.

1.      „Wie? Nach Indien? Als Frau? Da bist du doch nichts wert und wirst du eh nur vergewaltigt!“
Ja ich schätze das war wohl der mit Abstand häufigste Satz, den ich in Deutschland vor meiner Abreise zu hören bekommen habe… Und, wer hätte das gedacht, ich kann euch beruhigen, ich bin in den letzten 7 Monaten NICHT vergewaltigt oder irgendwie sexuell belästigt worden. Und auch die von vielen geäußerten Bedenken, ich sei hier als Frau nichts wert, kann ich nicht bestätigen. Natürlich muss man das Ganze differenziert betrachten und klar gibt es auch Probleme, die ich keinesfalls schönreden möchte, aber man darf hier nicht gleich auf ganz Indien schließen.
Zunächst einmal zu der Rolle der Frau in Indien allgemein. Betrachtet man die Strukturen, die uns hier in den uns umgebenden kleinen Dörfern, begegnen, lässt sich nicht leugnen, dass Frauen zumeist in der traditionellen Rolle der Hausfrau leben und auch lässt sich nicht abstreiten, dass die indische Gesellschaft eine patriarchische ist. Es gibt durchaus Unterdrückung und gesellschaftlichen Druck auf Frauen. So zahlt beispielsweise in vielen Fällen bei einer traditionellen Hochzeit die Familie der Braut eine Mitgift an die Familie des Bräutigams zahlen, auch wenn diese Praxis eigentlich gesetzlich verboten ist. Oder ein anderes Beispiel: Stirbt der Mann einer hinduistischen Frau, darf diese nicht erneut heiraten und wird von wichtigen Feierlichkeiten im Familien-und Freundeskreis, wie z.B. den Namensgebungszeremonien der neugeborenen Kinder ausgeschlossen, da durch den Tod ihres Mannes nun Unglück an der Witwe hafte. Nicht aber so im Falle eines Witwers. Dieser genießt nach wie vor alle gesellschaftlichen Privilegien und kann erneut heiraten. Aber auch wir selbst durften erfahren, was es heißt nicht unbedingt dieselben Freiheiten wie in Deutschland zu haben. Zwar wurden wir nie respektlos behandelt, aber besonders während unseres Interproject Visits und auf unsere Reise, merkten wir, dass man als Mann doch viel leichter einen Anschluss an die indische Gesellschaft findet und man auch als Frau in männlicher Begleitung anders angeschaut bzw. wahrgenommen wird. Damit meine ich nicht, die Kommentare die man ab und an auf der Straße mal hinterhergerufen bekommt. Das habe ich in Deutschland auch schon in weitaus stärkerem Ausmaß erlebt… Also zu dem Thema, halten wir fest: Idioten gibt es überall. Was uns direkt zu dem nächsten Thema „Vergewaltigungen“ führt. 
Es stimmt, dass Vergewaltigungen in Indien ein Problem darstellen und diese in relativ hoher Anzahl gestehen, was jedoch auch mit der großen Bevölkerungsanzahl zusammenhängt. Als meist genanntes Beispiel für Vergewaltigungen in Indien dürfte den meisten wohl die Gruppenvergewaltigung der jungen Studentin in einem Bus in Delhi bekannt sein. Es ist richtig, dass es in Delhi eine nochmals höhere Vergewaltigungsrate gibt. Und ich muss auch ganz ehrlich sagen, dass ich froh war, dass wir auf unserer Reise mit den Jungs aus einem anderen Projekt zusammen in Delhi waren. Vor allem da unser Hotel doch schon in einer etwas dunkleren, runtergekommenen Gasse lag… Da war ich echt nicht scharf darauf alleine lang zu laufen.   
Bevor wir jetzt jedoch gleich wieder mit dem Finger auf Indien zeigen, sollten wir Bedenken, dass Vergewaltigungen auch in Deutschland ein ernstes Problem darstellen, was leider oftmals ein Tabu-Thema darstellt. Denn auch in Deutschland kommt es regelmäßig zu sexuellen Übergriffen auf Frauen und zwar nicht nur, wie oftmals suggeriert wird durch Menschen mit Migrationshindergrund, sondern auch durch "deutsche" Männer.
Es stimmt auch, dass in Indien gerade Menschen mit Konservativen Ansichten (keinesfalls alle!) versuchen den Frauen selbst die Schuld für die Übergriffe zu geben. Es ist meiner Meinung jedoch gerade zu absurd, die Schuld eines Gewaltverbrechens bei dessen Opfer zu suchen. Letzendlich ist es der Täter, der sich entscheidet dieses zu begehen. Die Schuld dann von sich abzuweisen und bei anderen zu suchen, zeugt meiner Ansicht nach nur von charakterlicher Schwäche und dem Unvermögen für deine eigenen Handlungen einzustehen. Leider hört man auch in Deutschland des Öfteren Kommentare wie „Wenn Frauen nicht angeschaut werden wollen, dann sollen sie sich auch dementsprechend anziehen.“ oder „Frauen provozieren es ja sexuell belästigt zu werden, wenn sie mit kurzen Röcken oder mit tiefem Ausschnitt rumlaufen.“ 
Kann es denn tatsächlich sein, dass man von Frauen verlangt ihre Freiheiten einzuschränken, damit man selbst nicht in Versuchung kommt respektlos oder gar straftätig zu werden? Vollkommen egal, ob in Indien oder in Deutschland... Ich denke in beiden Ländern sollte das Bewusstsein für diese Themen gestärkt werden. Auch in Deutschland. Denn während man in Deutschland regelmäßig in den Medien von Gruppenvergewaltigungen im Ausland oder sexuelle Übergriffe auf deutsche Frauen durch Ausländer berichtet wird. Wird über von deutschen Männern ausgeübte sexuelle Gewalt weitesgehend geschwiegen.

Bei all den negativen Aspekten, denen man als Frau nicht nur in Indien gegenübersteht, müssen aber auch unbedingt die zahlreichen selbstbewussten, eigenständigen und emanzipierten Frauen erwähnt werden, die wir in Indien getroffen haben. Frauen, von denen wir uns alle eine Scheibe abschneiden können. Die für sich und andere einstehen, in verschiedenen Hilfsorganisationen arbeiten oder einfach im Alltag ihre „Frau“ stehen. Angefangen bei einigen Mädels im Kinderheim, die voller Ehrgeiz für ihre Ziele Polizistin oder Ingenieurin zu werden kämpfen, über indische Freundinnen, die lieber studieren und sich ihr eigenes Leben aufbauen, statt zu heiraten, über die Panchayat (mehrere kleine Gemeinden) -Vorsitzende, die innerhalb eines halben Jahres dank ihrer guten Reden und ihrem ausgeprägten zwischenmenschlichen Gespür bis an die Spitze gewählt wurde und die volle Unterstützung von Mann und Kindern erhält, über die Nationalheldin Neerja Bhanot, die bei der Entführung des Pan American Flugs 73.  als Stewardess mit ihrem überlegten Handeln und Mut zahlreichen Menschen das Leben rettete (Der gleichnamige Film über dieses Ereignis ist sehr empfehlenswert!), bis zur ehemaligen Chief Ministerin von Tamil Nadu Jayalalithaa. Starke Frauen sind an jeder Ecke Indiens zu finden.  Und auch starke Männer, die Frauen respektvoll und auf Augenhöhe betrachten, als Freunde oder als gleichberechtigte Partnerin. In Indien zieht sich definitiv ein Wandel durch die Gesellschaft und dieser ist nicht nur in den großen Städten, wo es kaum Unterschiede zu europäischen Städten gibt, spürbar, sondern auch in Teilen der jungen Generation am Land angekommen, wenn gleich doch auch noch nicht überall.
Falls euch das Thema Frauenrechte in Indien und weltweit interessiert, können wir euch noch empfehlen den Blogartikel von Anna und Milena (BBP-Freiwillige bei der Organisation NMCT) zu lesen, der unserer Meinung nach echt gut gelungen ist. http://bbp16-coimbatore.blogspot.in/2016/12/frauen-und-ihre-rechte-in-indien-und.html
 
2.      „Da werden die Frauen doch gegen ihren Willen verheiratet.“
Nein, werden sie nicht. Es ist richtig, dass in Indien die arrangierte Ehe am weitesten verbreitet ist, diese ist jedoch keinesfalls mit einer Zwangsheirat zu verwechseln. Sie beruht auf einer freiwilligen Entscheidung der beiden Partner eine Ehe einzugehen. Entgegen der uns bekannten Liebeshochzeit, die Indien durchaus auch verbreitet ist, wird diese Entscheidung jedoch aus rationalen, anstelle von emotionalen Gründen getroffen. Was das Thema Kinderehen angeht, muss man leider sagen, dass es diese nach wie vor gibt. Jedoch ist das in Indien NICHT der Regelfall. Zumeist sind Familien aus ärmsten Verhältnissen oder den untersten Gesellschaftsschichten betroffen, welche aus finanziellen Gründen oft keine andere Wahl haben, als ihre Töchter zu früh zu verheiraten, um diese nicht mehr selbst versorgen zu müssen.
Einen ausführlichen Artikel zum Thema „Heirat und Ehe in Indien“ haben wir hier geschrieben: http://bbp16-tarikere.blogspot.in/2016/12/vom-sudindischen-essen.html

3.      „Lernst du dann eigentlich auch indisch?“
Oh ja… Wie oft wir das gefragt wurden… Und die Antwort ist ebenso simpel wie komplex: Nein. Es gibt nämlich kein „indisch“. Und auch entgegen vieler Annahmen wird auch Hindi nicht überall gesprochen. Und jetzt wird es etwas komplizierter… Sprachmäßig gesehen kann man Indien eher mit Europa als mit Deutschland vergleichen. Jeder Staat hat seine eigne Sprache. So werden in den 29 indischen Bundesstaaten 22 verschiedene Amtssprachen verwendet. Hindi ist dabei vor allem im Norden verbreitet und stellt die Sprache mit den meisten Muttersprachlern dar bzw. wird auch von den meisten Indern verstanden. Somit ist Hindi in Indien vielleicht so etwas wie Englisch für uns Europäer. Allerdings ist auch Englisch, vor allem auch aufgrund der Kolonialzeit, weit verbreitet in Indien. In der Schule lernen die Kinder in der Regel die jeweilige Lokalsprache, die Nationalsprache Hindi und die internationale Sprache Englisch.
Zu der Frage, was wir lernen... Wir lernen Kannada, die offizielle Sprache im Bundesstaat Karnataka, in dem wir leben. Allerdings reichen unsere Kenntnisse nur gerade so zum Einkaufen, Essen bestellen, Sich-Vorstellen etc. aus, nicht allerdings um wirkliche Unterhaltungen in der Sprache zu führen.
Zu unserem Glück kommen wir aber auch hier in den meisten Fällen mit Englisch weiter, denn zumindest den ein oder anderen Brocken sprechen dann doch die meisten noch, wenn auch nicht alle. Aber so ist das in Deutschland ja auch. Und zur Not; mit Händen und Füßen klappt die Verständigung dann meist doch irgendwie.

4.      „Gibt es da überhaupt eine gute Strom-, Wasser- und Internetversorgung?“
Grundsätzlich ja. Allerdings mit einigen Ausnahmen. Stromausfälle gehören in Indien zum Alltag. Diese halten sich in Tarikere und im Office allerdings eher in Grenzen und liegen nur bei ein paar Minuten am Tag, also kaum nennenswert. In Chattanahalli in dem ziemlich abgelegenen Kinderhostel sieht das Ganze dann schon wieder etwas anders aus. Hier wird tagsüber der Strom regelmäßig abgestellt und kommt erst abends gegen 18:00 Uhr wieder. Aber wenn man das weiß, ist das Ganze kein Problem und man gewöhnt sich schnell dran. Und ganz ehrlich… Tagsüber brauchen wir den Strom ohnehin nicht. Es ist hell genug, dass man kein Licht benötigt, Handys, Laptops etc. können wir auch nachts laden und Tee können wir auch auf dem Gasherd statt mit dem Wasserkocher machen. Also halb so wild.
Internet? Im Office haben wir ganz normal W-Lan, im Hostel nicht, da die nötigen Anschlüsse fehlen. Dafür haben wir am Handy, wie auch in Deutschland üblich, eine Interflatrate. Also haben wir durchweg Zugang zum Internet. Auch wenn der Empfang im Hostel (wie schon erwähnt, es ist halt ziemlich außerhalb) manchmal eher zu wünschen übriglässt, klappt es doch immer irgendwie und sobald wir in Tarikere sind oder auch so unterwegs, haben wir super Empfang und schnelles mobiles Internet. Also ganz genauso wie in Deutschland, da gibt es ja auch Orte mit besserem und mit schlechterem Empfang, gerade am Land.
Was die Wasserversorgung angeht wird es etwas komplizierter. Wir haben immer fließend Wasser (bis auf einmal, als eine Leitung kaputt war, aber gut das kann in Deutschland auch mal passieren) und auch mit mangelndem Trinkwasser hatten wir noch nie selbst Probleme.
Allerdings ist dieses Jahr während der Regenzeit in Karnataka ungewöhnlich wenig Regen gefallen, eigentlich fast kaum. Einige Inder/-Innen, mit denen wir uns unterhielten, sprachen sogar davon, dass im Vergleich zu sonst, die Regenzeit ganz ausgefallen sei. Dies hat natürlich einige Folgen nach sich gezogen, neben ausgefallenen Ernten, leeren Staudämmen und Aufstände gegen Wasserlieferungen in den Nachbarstaat Tamil Nadu, wird jetzt, wo es immer heißer wird und auf den Sommer zugeht, immer deutlicher was das Ausbleiben des Regens bedeutet. Auch wenn wir selbst noch nicht direkt betroffen waren, hören wir immer wieder vom Wassermangel.
Wer sich hierfür interessiert ist herzlich eingeladen unseren Artikel zu lesen, in dem wir bereits ausführlich über die Folgen der ausgebliebenen Regenzeit sowie die Wasserproblematik weltweit und in Indien berichtet haben. http://bbp16-tarikere.blogspot.in/p/uber-eine-zuneige-gehende.html

5.      Komm‘ ich heut‘ nicht, komm‘ ich morgen“
Das Klischee können wir ganz klar bestätigen. Ganz im Gegenteil zu dem, was wir aus dem bürokratischen Deutschland kennen, wo immer alles streng geregelt und 4 Wochen im Voraus geplant ist, gehen die Menschen hier wirklich mit allem viel gelassener um. Field Visit? „Können wir nächste Woche machen.“, „Oh jetzt passt es morgen eigentlich doch nicht so gut… Dann halt wann anders.“, „Ach übrigens morgen oder übermorgen ist auch ein Feiertag, da sind die Kinder den ganzen Tag da.“, „Ihr könntet das noch machen oder das, vielleicht morgen oder ach doch nächste Woche.“ Das ist hier wohl Standard. Einen festen Plan gibt es selten. Eher viele verschiedene Möglichkeiten, die man sich offenhält, um dann spontan zu entscheiden, was gerade passt. Aber wer sagt denn, dass das schlecht ist? Klar für uns ist manchmal ein bisschen anstrengend, da wir es einfach anders gewöhnt sind. Aber wenn man sich erstmal dran gewöhnt hat, dass hier alles etwas länger dauert und man meist mehrmals nachfragen muss, bis etwas wirklich was wird, ist das auch kein Problem. Im Gegenteil, wir haben mittlerweile gelernt, die Vorzüge dieser Einstellung zu genießen. Wie z.B. die total entspannten Bürozeiten. Die Mitarbeiter kommen meist so zwischen halb elf und elf, manchmal auch später eingetrudelt. Aber auch im Alltag merkt man, dass alles weniger durchgetaktet ist als in Deutschland und Menschen viel gelassener sind. Und ein riesen Pluspunkt: Ich habe noch keinen Inder mit Burn-out getroffen! Das soll natürlich nicht heißen, dass es das nicht gibt. Das ist lediglich, wie wir unser Umfeld hier in dem kleinen Tarikere im Süden Indiens wahrnehmen. In den großen Städten und den großen Konzernen gibt es sicherlich auch einen druchgetakteteren Ablauf und auch haben wir schon gehört, dass es so toll sei, dass in Deutschland alles so strukturiert und geplant ist. Und um das nicht falsch zu verstehen, das heißt nicht, dass die Menschen hier nicht auch hart arbeiten, sie gehen lediglich mit einer lockereren Einstellung an die Sache.

1 Kommentar:

  1. Wow, da habt ihr wirklich gut die gängigsten Vorstellungen angepackt. Super!

    AntwortenLöschen